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Wolf Christian von Wedel Parlow
Drahomira
Roman
Englische Broschur, 340 S.
Juni 2008, Euro 15,00
Aventuur im NordPark Verlag
ISBN: 978-3-935421-29-4
Nordböhmen im Mai 1940.
Drahomira kommt mit einem fertigen Plan nach Neuperstein. Im Gutsbesitzer glaubt sie einen Mann zu finden, auf dessen Unterstützung sie zählen kann.
Dass sich sein Onkel von der jungen Tschechin da in etwas hat hineinziehen lassen, erfährt Rick von einer betagten Ötztalerin, als er viele Jahre danach herauszufinden versucht, was den Onkel in den Tod getrieben hat...
«Ich dachte, die Verzauberung durch eine Frau
könnte ihn zu Handlungen veranlasst haben, die er
im Innersten gar nicht wollte. Die Frau, das Böse.
Ich schämte mich. Wenn überhaupt etwas daran war
an diesem Zufallsprodukt meiner Phantasie, war es
dann nicht eher so, dass er es selbst war, der seinem
Verstand Fesseln anlegte, als er anfing, eine Frau
durch Ansehen ins Göttliche zu erheben?«
Leseprobe:
Kapitel 1: Das Loch (pdf-Datei)
Leseprobe:
Kapitel 9: Der Berg (pdf-Datei)
9
Der Berg
Die beiden Braunen trabten. Wenn die Hufe, wie es manchmal geschah, im
Takt auf die Straße schlugen, schwangen auch die Hinterbacken im Takt
hin und her. Als könnte ihn niemand aufhalten, brauste der Wagen mit
seinen drei Insassen dahin. Es war Juli, die Ernte im vollen Gang. Den
Leuten rann der Schweiß aus den Achselhöhlen. Und sie machten einen
Ausflug, hatten dem Drängen Drahomiras wieder einmal nachgegeben.
Wochenlang waren sie zu Hause geblieben, hatten sich bemüht, ihre
Gefühle zu schonen, die an jenem Nachmittag, als sie Forellen geangelt
hatten, so sehr in Wallung geraten waren. Drahomira und der Baron
hatten die liebenswürdigsten Seiten ihres Wesens hervorgekehrt. Der
häusliche Friede schien wiederhergestellt. Auch Wolny hatte sich
beruhigt. Der Baron hatte ihn gleich am folgenden Tag beiseite genommen
und ihm zugeredet, die gestrigen Äußerungen Drahomirens nicht allzu
wörtlich zu nehmen. Gewiss, es habe diese Nadelstiche der Tschechen
gegeben, da und dort habe man einen tschechischen Post- oder
Polizeibeamten in ein deutsches Dorf versetzt oder eine tschechische
Schule in einem deutschen Ort eröffnet. Dahinter stecke weiter nichts
als das Ressentiment einzelner tschechischer Ministerialbeamter, die in
jenen Jahren erstmals die Wonnen der Macht genossen. Nur eine kindliche
Allmachtsphantasie sei imstande, darin eine planvolle Strategie zu
sehen, die darauf abzielte, die Sudetendeutschen dermaßen zu reizen,
dass sie sich einem größenwahnsinnigen Hitler in die Arme werfen. Das
Rezept, dessen sich diese kindliche Phantasie bediene, sei ebenso
einfach wie raffiniert. Man lese Hitlers Kampfbuch. Man finde heraus,
welche Ziele er verfolge. Man spiele ihm in die Hände, indem man ihm
Argumente liefere, die ihm helfen, einen weiteren kleinen Schritt in
Richtung dieser Ziele zu tun. Man nehme in Kauf, dass dieser eine
kleine Schritt bezweckte, sich die deutschböhmischen Gebiete
einzuverleiben. Mit diesem Opfer bestärke man ihn in dem Wahn, er sei
von der Vorsehung ausersehen, das deutsche Volk zum Herrn über die
Völker der Welt zu machen. Alles Weitere ergebe sich von selbst. Hitler
werde nicht davon ablassen, die in seinem Kampfbuch angekündigten
Feldzüge zu unternehmen. Deutschland werde die Völker der Welt gegen
sich aufbringen. Am Ende werde niemand bestreiten, dass die
Sudetendeutschen ihr Heimatrecht verwirkt hätten. Und der große
tschechische Staatslenker werde sich in seinem Londoner Exil ins
Fäustchen lachen, dass Hitler ihm in die Falle gegangen sei. Aber die
Weltgeschichte folge nun mal nicht den Zügen eines genialen
Schachspielers. Sie sei das Ergebnis des von Zufällen beeinflussten
Zusammenwirkens von Millionen, wenn nicht Milliarden Menschen mit der
Fähigkeit selbständigen Denkens und Handelns. Nur eine kindliche
Phantasie sei imstande, sich eine Welt vorzustellen, deren Lauf durch
einen Einzelnen in eine bestimmte Richtung gelenkt werden könne.
Allenfalls kurzfristig könne ein Einzelner das Weltgeschehen
beeinflussen, auf Dauer niemals. Alles in allem könne man Drahomiras
Äußerungen wirklich nicht ernst nehmen. Wolny wusste nicht so recht,
was er von den Beschwichtigungsversuchen des Barons halten sollte. Er
hatte das vage Gefühl, dass sein Dienstherr, so sehr er auch die
abenteuerlichen Zusammenhänge abtat, die Drahomira an jenem
Angelnachmittag angedeutet hatte, insgeheim Geschmack daran gefunden
haben mochte. Waren es wirklich Trugschlüsse?
Sie hatten Tuhan und Sukorad hinter sich gelassen, winkten den am
Straßenrand stehenden Kindern zu und freuten sich am Gleichklang des
Hufschlags der unermüdlich trabenden Braunen. Noch immer lag eine
erhebliche Wegstrecke vor ihnen. Bis zur Hora R(íp und von dort zu ihrem
Nachtquartier im U Svatého Vavrince in Raudnitz an der Elbe sollte sie
heute ihr Ausflug führen. Hora R(íp, darauf hatte Drahomira bestanden.
Die Hora, der Berg, in diesem Geschlechtsunterschied offenbarten sich
die unversöhnlichen Seelen zweier Völker. Der Baron hatte gefeixt. Wenn
man den Kleinen und Großen Bösig betrachte, könne man die Tschechen
verstehen. Für weibliche Formen seien sie offenbar sehr empfänglich.
Die Deutschen seien nüchterner. Ein Berg sei für sie etwas Unwegsames.
Er liege ihnen im Weg, erschwere den Gütertransport. Aber er stachle
auch ihren Wettbewerbsgeist an. Sie könnten sich an ihm beweisen,
könnten zeigen, dass sie stärker seien als er. Drahomira hatte gelacht.
›Pan Mellen, ich staune. Ich wusste gar nicht, was für eine
sprachphilosophische Ader Sie besitzen. Sie sollten das Talent nicht
brachliegen lassen.‹ Es war eines der Geplänkel, in die das Gespräch
gelegentlich abglitt. Der Baron neckte gern, aber nicht immer entzog er
sich dem ernsthaften Gespräch. Wahrscheinlich lag dann etwas in der
Stimme Drahomiras, das ihn warnte.
Sie waren an der Kuppe angelangt, wo die Straße in steilen Kehren in
das Elbtal abzufallen begann. Die verwelkten Blütendolden der den
Elbhang bewaldenden Akazien hingen bräunlich herab. Die Bienen hatten
sich andere Nektarquellen gesucht. Aber das Licht, das vom Blattwerk
der Akazie durchgelassene, eigentümlich helle, graugrüne Licht, war
geblieben. Drahomira hielt den Wagen an und sprang vom Bock. ›Meine
Herren, wie wäre es mit etwas Bewegung? Die Pferde gehen jetzt ohnehin
im Schritt.‹ Die Männer stiegen ab und sahen zu, wie sie die Zügel am
Bock festband und die Bremsen anzog. ›Sie müssen eine leichte Zuglast
spüren‹, sagte Drahomira, ›gerade soviel, dass sie nicht aus Angst, der
Wagen könnte ihnen in die Beine fahren, in Panik geraten.‹ Ein
seltsames Bild gaben die drei ab, wie sie da in schnellem Schritt
talabwärts marschierten, zwei Männer, einer fast doppelt so alt wie der
andere, in ihrer Mitte eine resolute junge Frau, hinter ihnen das
führerlose Gespann mit dem Wagen. ›Ich möchte noch einmal auf das
Gespräch zurückkommen, das wir neulich beim Angeln geführt haben‹,
begann Drahomira. ›Ihren Parteibeitritt hatten Sie damals mit der Sorge
um Ihre Familie begründet. Warum liegt Ihnen soviel an diesem
Mellenclan?‹ ›Ein gesunder Stamm in einer gesunden Volksgemeinschaft.
Warum sind die Juden so stark? Weil jeder einzelne sich als Stütze der
Familie versteht. Wenn Eltern einen Sohn nach Amerika in die Lehre
schicken, wird er dort von einem Onkel in Obhut genommen.‹ ›Sie sind
Parteimitglied und nehmen sich die Juden zum Vorbild.‹ Drahomira lachte
aus vollem Hals. ›Meine Liebe, dass ich der Partei innerlich fern
stehe, ist Ihnen sicher nicht entgangen. Und gegen die Juden habe ich
persönlich gar nichts. Es gibt sehr nette Menschen unter ihnen. Meine
von mir sehr verehrte Schwägerin ist Vierteljüdin. Aber in wichtigen
gesellschaftlichen Bereichen, an den Universitäten, im Musikleben, an
den Theatern, bei Zeitungen und Banken, im Handel hatten sie einfach
zuviel Macht. Das konnte man nicht länger dulden. Als Tschechin müssten
Sie uns eigentlich verstehen. Hatten die Tschechen nicht lange unter
der deutschösterreichischen Vorherrschaft gelitten?‹ ›Aber Pan Mellen,
das können Sie doch nicht vergleichen. Böhmen und Mähren waren
Provinzen des Kaiser- und Königreichs Österreich-Ungarn. In Wien wurde
entschieden, wie viele tschechische Lehrer eingestellt wurden, wie
viele Tschechischstunden den Schulkindern zustanden, welche
tschechische Literatur zu lesen war. Und Wien war deutsch. Unsere
Unterdrücker waren Deutsche, waren Menschen, die eine andere Sprache
sprachen als wir. Ihre Juden dagegen waren Deutsche, standen als
Deutsche einer Bank vor, führten als Deutsche Theaterregie. Und wenn
sie solche Positionen erlangten, verdankten sie das nicht ihrem
Judentum, sondern ihrem Talent.‹ ›Meine liebe Drahomira, soviel
Naivität hätte ich Ihnen nicht zugetraut. Ich will den Juden, die bei
uns herausragende Stellungen inne hatten, weder Intelligenz noch das
nötige Können absprechen. Aber Können und Intelligenz reichen nicht
aus, um Theaterintendant oder Chefredakteur zu werden. Man braucht
Beziehungen. Davon haben die Juden im Überfluss. Die ganze Welt haben
sie mit ihrem Netz von Beziehungen überspannt. Überall sitzen ihre
Leute. Überall haben sie ihre Hände im Spiel. Wenn wir dem keinen
Riegel vorschieben, beherrschen sie bald die ganze Welt.‹ ›Ich bin
entsetzt, Pan Mellen. Das sind nicht Sie. Das ist nicht ihre Sprache.‹
Sie hakte sich bei Hans Wolny unter. Der war kaum bei der Sache. Viel
mehr als dieses Gespräch berührte ihn die körperliche Nähe Drahomiras.
Immer wieder sah er sie von der Seite an und war von ihrer Schönheit
beglückt. ›Sind Sie sich überhaupt dessen bewusst‹, argumentierte sie
weiter, ›was Europa den Juden zu verdanken hat? Europa ohne die Zehn
Gebote, ohne die Philosophie Spinozas?‹ ›Jetzt reden Sie schon wie
Sidonia.‹ ›Sidonia? Wer ist Sidonia?‹, fragte sie. ›Ach, die Romanfigur
eines englischen Schriftstellers jüdischer Abstammung, ein Jude, der
von den Leistungen der Juden schwärmt, von ihrer großartigen Zukunft,
von ihrer zukünftigen Weltherrschaft.‹ ›Aha‹, sagte sie, ›worauf die
Juden hinauswollen, wissen Sie also aus einem Roman.‹ Sie sah zum Baron
hinüber. Wolny konnte nicht sehen, wie sie ihn ansah. Vermutlich
lächelte sie, wie sie es immer tat, wenn sie ihm eine Bosheit an den
Kopf warf. Der Baron ließ es geschehen. Er genoss ihre Spitzen,
schätzte Wolny. ›Was auch immer dieser Sidonia gesagt haben mag, wir
können festhalten, im privaten Umgang machen Sie keinen Unterschied
zwischen Juden und Nichtjuden. Ob einer Jude ist oder nicht, scheint
Ihnen jedenfalls weniger wichtig als seine mehr oder minder
schätzenswerten menschlichen Eigenschaften. Aber Ihre Toleranz hat ein
Ende, wenn es um die Besetzung herausragender gesellschaftlicher
Stellungen geht. Davon seien die Juden auszuschließen. Da hat man bei
Ihnen ja inzwischen mit deutscher Gründlichkeit aufgeräumt. Als Jude
kann man bei Ihnen nicht einmal mehr mit Gemüse handeln. Sind Sie nun
zufrieden?‹
Der Baron räusperte sich. ›Sie sollten mich inzwischen gut genug
kennen, meine Liebe, um zu wissen, dass ich mit dieser Art von
Judenpolitik nichts gemein habe. Man ist da entschieden zu weit
gegangen.‹ Er war sichtlich gekränkt. ›Es ist die Prämisse, Pan Mellen.
Wenn man sich einmal die Prämisse zu Eigen gemacht hat, die Juden
wollten die Weltherrschaft, wo zieht man dann die Grenze? Denken Sie an
Ihren Mellenclan! Soll der nicht wachsen wie ein jüdischer Stamm?
Denken Sie an die vielen Vettern, die Sie im Offizierskorps, im
Auswärtigen Amt und den anderen Reichsministerien unterbringen wollen.
Überall sitzt bereits ein älterer Vetter, den Sie darauf hinweisen
können, dass da ein junger Vetter vor der Tür stehe, den er bitteschön
protegieren möchte. Sagten Sie nicht, ohne Beziehungen gehe es nicht?
Und nun stellen Sie sich vor, man beginne zu flüstern: Schon wieder ein
Mellen! Wo man hinschaut: ein Mellen. Wenn wir dem nicht einen Riegel
vorschieben, haben sie bald alle maßgeblichen Stellen besetzt. Sie
erklären, um Himmels willen, wir verfolgen keinerlei Absichten, wir
wollen nur eine unserer Intelligenz und unserem Können entsprechende
gesellschaftliche Stellung einnehmen.‹ ›Ihr Vergleich hinkt, Drahomira.
Sie vernachlässigen ein zentrales Moment. Das ist das Jahrtausende alte
Bemühen der Juden um die Reinhaltung ihrer Rasse. Darin liegt ihre
Überlegenheit. Und unsere Schwäche rührt daher, dass wir es lange
versäumt haben, uns um die Reinheit unserer Rasse zu kümmern. Wir
können das nur unter den größten Anstrengungen nachholen. Bedenken Sie,
eine unvermischte Rasse erstklassigen Stammes ist die natürliche
Aristokratie.‹ ›Mir graust vor Ihnen, Pan Mellen. Aber eigentlich
sollte ich Ihnen dankbar sein, dass Sie kein Hehl aus Ihren
Glaubenssätzen machen. So komme ich langsam dahinter, was für ein
Mensch Sie sind.‹ ›Und zu welchem Schluss sind Sie gekommen?‹ Der Baron
klang schon wieder halb versöhnt. Er sah listig aus, wie er sie da
unter seinem tief in die Stirn gezogenen Panama mit zusammengekniffenen
Augen ansah. Aber der Eindruck war falsch. Er war ein ganz und gar
schlichter Mensch, so schlicht, dass er dem Gift dieser Reden vom
jüdischen Weltmachtsstreben, von der Überlegenheit der unvermischten
Rasse erlegen war, dachte Wolny. Ihn tangierte das alles nicht. Er war
nicht süchtig auf Welterklärungen. Er dachte in Zahlen, in
Bodenklassen, Hektar- und Milcherträgen.
›Ich bin mit meinem Urteil noch nicht fertig‹, sagte Drahomira, ›mich
irritiert der Widerspruch, dass Sie der Partei einerseits innerlich
fern stehen, andererseits mit voller Überzeugung deren Irrlehren
vertreten.‹ ›Irrlehren? Es sind Tatsachen, meine Liebe, auf die ich
schon während meines Studiums gestoßen bin. Das war lange, bevor ich
der Partei beitrat.‹ ›Pan Mellen, es ist eine Tatsache, dass wir jetzt
diese Straße hinunter marschieren. Es ist eine Tatsache, dass Sie einen
etwas zerknitterten olivgrünen Leinenanzug tragen. Ob die Juden
hingegen die Weltherrschaft anstreben, können wir nicht wissen. Wir
können es behaupten, glauben, vermuten, aber wir wissen nicht, ob es
zutrifft.‹ ›Es gibt Tatsachen, Frau Lehrerin, die wir nicht mit unseren
fünf Sinnen wahrnehmen können. Das werden Sie wohl nicht bestreiten.
Denken Sie an Dinge wie Liebe, Hass, Verachtung. Wie stellen wir solche
Tatsachen fest? Wir lesen sie an den Augen ab, an der Mimik. Auch die
Stimme verrät uns einiges. Wir schließen aus gewissen Indizien auf
einen zugrunde liegenden Tatbestand. Das ist völlig legitim. Ich räume
ein, dass wir uns im Gemütszustand eines anderen Menschen täuschen
können. Dennoch fühlen wir uns aufgrund unserer Beobachtungen zu der
Feststellung berufen, A liebe B.‹ Drahomira warf den Kopf zurück. ›Ach,
Pan Mellen, wozu vertun wir unsere Zeit mit der abstrakten Frage, was
eine Tatsache ist und was nicht? Überlassen wir das doch den
Philosophen. Aber das heißt nicht, dass ich mit Ihnen einig bin, was
die Sache selbst betrifft. Ich fühle mich unwohl in meiner Haut in
Gegenwart eines Mannes, der sich von solchen Wahnideen den Kopf
verdrehen lässt. Unwohl, verstehen Sie. Weil Sie sich von Ängsten
beherrschen lassen. Die Juden machen Ihnen Angst. Sie scheinen Ihnen
turmhoch überlegen. Und Sie wissen auch, warum sie so überlegen sind:
Sie haben sich seit Anbeginn um die Reinheit ihrer Rasse bemüht. Und
die Germanen, oder wer immer Ihre Vorfahren sind, haben das versäumt.
Es gibt deswegen nur eine Lösung. Erstens muss man die Juden
vertreiben, zweitens mit unerbittlicher Strenge über die Reinheit der
eigenen Rasse wachen. Rasse! Dass Sie dieses Wort, wenn Sie von
Menschen sprechen, überhaupt in den Mund nehmen. Wer Rasse denkt, denkt
an Züchtung. Ihr Bruder hat zwei Töchter. Erwarten Sie, dass er sie
zwingt, sich mit Edelmenschen zu paaren? Antworten Sie nicht! Ich will
Ihre Antwort nicht hören. Die Möglichkeit allein, Sie könnten die Frage
bejahen ...‹ Sie hatte sich dabei ganz dem Baron zugewandt und hielt
mit ihm Schritt, indem sie im Grätschschritt neben ihm her sprang. Der
geblümte blaue Baumwollrock schwang weit hin und her. Wolny sah ihre
nackten Unterschenkel und freute sich still. Drahomira war noch nicht
fertig. ›Sie haben es nie gelernt, Ihre Lesefrüchte in Zweifel zu
ziehen. Zweifeln heißt einen festen Untergrund im Sumpf der
Gewissheiten suchen. Man kann das lernen, Pan Mellen. Auch Sie können
das lernen. Und ich helfe Ihnen dabei. Nehmen wir das angebliche
Bemühen der Juden um die Reinheit ihrer Rasse. Was wissen wir über das
Verhalten der Juden in Bezug auf ihre Rasse? Was können wir wissen? Wir
wissen noch nicht einmal, ob die Juden im Verlauf der Jahrtausende
überwiegend untereinander geheiratet haben. Aber nehmen wir an, das sei
der Fall gewesen. Wüssten wir dann auch, warum sie sich so verhalten
haben? Nein, wir könnten allenfalls Vermutungen anstellen. Denkbar wäre
in der Tat, dass sie ihre Rasse vor schädlichen nichtjüdischen
Einflüssen schützen wollten. Ebenso gut ließe sich vermuten, dass sie
ihren Glauben bewahren wollten oder schlicht der Not gehorchten bei all
der Ablehnung, die ihnen von Seiten der nichtjüdischen Bevölkerung
widerfuhr.‹
Sie redet und bewegt sich wie eine Traumgestalt, dachte Wolny. Sie
hatte ihm längst ihren Arm entzogen. Wer so redete wie sie, brauchte
beide Hände und Arme. Wolny war hin und her gerissen zwischen dem, was
er hörte und was er sah. Er hörte, wie sich die Vorstellungen des
Barons unter ihren Worten in Nichts auflösten. Er sah die kraftvollen
Bewegungen ihrer Hände und Arme in der ärmellosen, weißen Bluse. ›Mir
ist so, als hätten Sie uns noch eine Sumpfblüte andrehen wollen‹, fuhr
sie fort. ›Sie sprachen von der Überlegenheit der jüdischen Rasse. War
es nicht so?‹ Der Baron. hatte sich bereits in die Rolle des
Angeklagten gefügt, er zuckte mit den Achseln Dabei hatte ihre Stimme
nichts Schneidendes. Sie war auch nicht schrill. ›Diese Sumpfblüte‹,
sagte sie, ›wollen wir jetzt genauso zerpflücken. Ich schätze, Sie
haben die deutsche Sozial- und Bevölkerungsstatistik der zwanziger
Jahre studiert. Danach wurde die Statistik ja leider durch Ihre Nazis
verdorben. Ahnungsvolle Juden sind ausgewandert oder geflohen. Wer
blieb, wurde an der Ausübung seines Berufs gehindert. Wer ein
öffentliches Amt bekleidete, verlor es. Die Statistik der zwanziger
Jahre beschreibt die Verhältnisse dagegen noch ungefähr so, wie sie
sich ohne gewaltsame Eingriffe entwickelt hatten. Ich stelle mir vor,
Sie haben dort nach Zahlen über den Umfang sowohl der damaligen
deutschjüdischen Bevölkerung in gehobener sozialer Stellung wie auch
der gesamten deutschjüdischen Bevölkerung gesucht. Stimmt es nicht?
Dann wissen Sie, wie viele von hundert Juden eine gehobene soziale
Stellung innehatten. Ihre Befürchtungen wurden vollauf bestätigt:
Relativ gesehen, war die Zahl der deutschen Juden in gehobener sozialer
Stellung deutlich größer als die entsprechende Zahl der nichtjüdischen
Deutschen. Oder? Das war es doch, was Sie herausgefunden haben. Sonst
könnten Sie wohl kaum von der Überlegenheit der jüdischen Rasse
sprechen. Nun, Pan Mellen? Warum schweigen Sie?‹ ›Wenn ein so schweres
Geschütz aufgefahren wird, hilft nur eines: Man geht in Deckung. Aber
im Ernst, so einfach ist das nicht mit der Statistik. Von vielen Juden
wusste man gar nicht, dass es Juden sind. Sie hatten sich taufen lassen
und einen unverfänglichen Namen angenommen. Erst der unter Hitler
eingeführte Ahnenpass hat hier einiges klargestellt.‹ ›Von solchen
stillen Juden hatten Sie doch gar nichts zu befürchten‹, unterbrach sie
ihn. ›Doch, doch‹, sagte er, ›man fühlte sich unterwandert. Außerdem‹,
fuhr er fort, ›waren in den zwanziger Jahren viele ärmliche Juden aus
Osteuropa zugewandert. Die verfälschten das Bild.‹ ›Ärmliche Juden!‹,
amüsierte sie sich, ›Ihrer These zufolge dürfte es die doch gar nicht
geben. Aber im Ernst‹, machte sie ihn nach, ›was ich sagen wollte, war
doch nur, dass sich Ihre These nicht belegen lässt. Denn was ist mit
den vielen armen Teufeln, den Lumpensammlern, den Schulversagern, den
psychisch Kranken, den Geistesgestörten? Wollen Sie die nicht
wahrhaben? Ich bin mir ziemlich sicher, unter den Juden gab es ebenso
viele Minderbegabte, Lebensuntüchtige und Taugenichtse wie
beispielsweise in Ihrem Mellenclan.‹ ›Was hacken Sie so auf dem
Mellenclan herum, mein Fräulein? Sie kennen ihn doch gar nicht‹,
knurrte der Baron. Er konnte sehr hochnäsig sein. Aber das war ihm gar
nicht bewusst, schätzte Wolny. Schon als kleiner Junge hatte er
vermutlich gelernt, dass Hochnäsigkeit eine Waffe sein konnte, wenn ihn
ein körperlich überlegener Nachbarsjunge anrempelte. Vielleicht hatte
die Gemessenheit genügt, mit der der Vater die Straßennachbarn in
Köslin zu grüßen pflegte. Man war anders. Die Straßennachbarn,
Handwerker, einfache Angestellte, kleine Beamte, duzten sich
untereinander. Der Vater war mit niemandem per du.
Drei Fuhrwerke kamen ihnen entgegen, die ersten an diesem Vormittag.
›Gemüsebauern‹, erklärte Wolny, ›in Wegstädtl ist Markttag.‹ Man sah
die leeren Gemüsekisten auf den Leiterwagen. Die Zügel in der Hand
haltend, gingen die Bauern neben ihren Wagen. Die Pferde waren ein
Vermögen wert, man schonte sie. ›Grüß Gott zusammen‹, rief der Baron
und lüftete den Hut, ›wie war der Markt heute früh?‹ ›Nicht schlecht,
bis neun war alles abgeräumt. Am besten gingen die Erdbeeren. Auch der
Salat, die Erbsen und Möhren waren im Nu verkauft. Ein SS-Kommando aus
Theresienstadt schnappte das meiste weg. Die stellen dort eine neue
Einheit auf, in der großen Festung, sagten sie. Das Gestapo-Gefängnis
in der kleinen Festung besteht ja schon. Da erzähle ich Ihnen sicher
nichts Neues. Ruckzuck geht das bei denen.‹ ›Und die Preise?‹,
unterbrach der Baron den Redefluss des lebhaften jungen Mannes, ›waren
Sie mit den Preisen zufrieden?‹ ›Ob wir mit den Preisen zufrieden
waren, hört euch das an!‹, wandte sich der Wortführer an seine
Gefährten. ›Wir Bauern sind noch nie auf unsere Kosten gekommen, das
können Sie mir glauben. Immerhin wissen wir jetzt, woran wir sind. Die
Preise sind fest und werden kontrolliert. Den jüdischen Blutsaugern hat
man das Handwerk gelegt. Wenn wir an Morgen denken, packt uns nicht
mehr die Angst, dass wir betteln gehen müssen. Aber Reichtümer, das
können Sie mir glauben, die häufen wir nicht an. Bei den jetzigen
Preisen heißt es produzieren auf Teufel komm raus, sonst reicht es
nicht hinten und vorne. Und die Herrschaften, wenn ich fragen darf,
sind die Herrschaften vom Zirkus? Sie müssen entschuldigen, aber ein
Gespann, das ohne Zügel geht, habe ich in der freien Wildbahn noch
nicht gesehen.‹ ›Keine Angst, wir sind ebenso sesshaft wie Sie‹, sagte
der Baron. Er hob lässig die rechte Hand. Ein anständiger Hitlergruß
war es nicht. Auch bei den Bauern fuhr kein gestreckter Arm in die
Höhe. Man hob die Hand mit angewinkeltem Arm. Die Hitler imitierende
Lässigkeit mochte sowohl verinnerlichte Zustimmung ausdrücken als auch
stärksten Vorbehalt. Man hielt sich alles offen.
›Diese Deutschen‹, stieß Drahomira heftig hervor, nachdem sie ihren
Marsch eine Weile schweigend fortgesetzt hatten, ›nichts gefällt ihnen
so, wie auf Teufel komm raus zu produzieren und ein Gestapo-Gefängnis
in der Nähe zu wissen.‹ Der Baron schwieg. Die ersten Häuser von
Wegstädtl kamen in Sicht. Die Pferde hielten auf ein Handzeichen
Drahomiras. ›Man muss die Deutschen nehmen, wie sie sind‹, sagte der
Baron beim Aufsteigen. ›Andere Völker mögen in vieler Hinsicht
charmanter sein, aber in Sachen Leistung und Ordnung haben wir den
anderen eine Menge voraus.‹ ›Wie dumm von uns, dass wir nicht Schlange
stehen, um uns ein Scheibchen von den Deutschen abzuschneiden‹,
versetzte Drahomira. Sie schnalzte mit der Zunge. Die beiden Braunen
trabten.
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